Helge Nyncke

Helge Nyncke

... gegenseitige Unterstützung in humanistischen Kreisen ist ein wunder Punkt, der noch viel Arbeit und Selbsterkenntnis erfordert

Selbstdefinition

Am treffendsten ist wohl "evolutionärer Humanist", klingt nur so sperrig, dass ich es so eigentlich nie verwende. Selbstverständlich bin ich damit automatisch auch Atheist, aber  mich vorrangig über meinen Standpunkt zur Religion zu definieren, wäre dann doch zu viel der Ehre für die Religion. Am liebsten sag´ich "Mensch", das schafft am meisten Verbindung und manchmal auch heitere Verwirrung. Aber ich betone auch schon mal gerne ausdrücklich, dass ich KEIN Christ bin, allein, um gegen die allzu Bekenntnisfreudigen etwas gegenzuhalten.

Entscheidende Erfahrungen

Ich bin zum Glück völlig religionsfrei aufgewachsen, keine Taufe, kein Kirchgang, keine Konfirmation, kein Religionsunterricht. Bekenntnisfreies Elternhaus mit viel Raum und Lust zum Philosophieren und Neugier auf Interessantes aus Natur und Wissenschaft. Dadurch war das Interesse an solchen Themen geweckt und ist seither nicht mehr verschwunden. Aber die kirchlichen Strukturen waren mir lange Zeit eher so egal und uninteressant, dass ich sogar schulterzuckend mit Taufe und Konfirmation meiner Kinder einverstanden war. Eine klarere Positionierung erfolgte erst relativ spät mit dem Schreiben eines einschlägigen Essays für einen Wettbewerb. Von da an intensive Beschäftigung mit den real existierenden religiösen Leitplanken, viel gelesen, viele Leserbriefe geschrieben, Kontakt zur GBS, Zusammenarbeit für einige Buchprojekte mit Michael Schmidt-Salomon, eigenes religionskritisches Buchprojekt, Kabarettprogramm, Cartoons, Satiren, Kontakt zum hpd, Buskampagne, Lesungen des "Ferkelbuchs" usw. - die Klarheit wuchs beständig durch´s eigene Tun.

Elitär

Minderheitenmeinungen erscheinen immer erst mal elitär, das ist so eine Art Naturgesetz. Breitere Bevölkerungsschichten erreicht man nur bei Themen, die die Meisten ohnehin beschäftigen, und das ist sicher bei Religion nicht der Fall. Aber das macht nichts, die breite Bevölkerung interessiert sich auch nicht die Bohne für Müllabfuhr, und trotzdem muss das geregelt werden. Also: das Wichtigste wäre, alle Privilegien der Kirchen wo immer es geht zu thematisieren, bekannt zu machen und gewichtige Partner (Parteien) zu finden, die sich für deren Abschaffung einsetzen. Und unbedingt mithalten gegen die Flut der christlichen Öffentlichkeitsbekenntnissucht! Jeder Einzelne ist wichtig, einfach präsent zu sein als ausdrücklicher NICHT-Christ und trotzdem netter Mensch und das so oft es sich anbietet, überall offen zu sagen (Leserbriefe eignen sich dafür auch sehr gut). Promis sind dazu besonders aufgefordert, aber die meisten haben einfach Angst davor, weil´s momentan eher schick ist, sich als gläubig zu outen. Wichtig dazu natürlich auch: Initiativen zur Abschaffung des Religionsunterrichts und ersatzweise zur Einführung des Faches humanistische Ethik in alle Schulen und als Leitgedanken auch in die Kindergärten + entsprechende Lehrer- und ErzieherInnenausbildung.

Religiöse Zwänge

Seit meiner bewussten Auseinandersetzung mit diesen Zwängen entgifte ich zusehends meine eigene Alltagssprache von religiösen Worthülsen, das macht Spaß und kostet nichts. Und über die Feiertage kann man sich auch freuen, ohne zu glauben, was da gefeiert wird (das weiß ich ohnehin meist besser. als meine alltagschristlichen Mitmenschen). Aber es gibt ja nicht nur innere, sondern auch äußere Zwänge: Was nervt, ist z.B. die ständige breite Präsenz von kirchlichen Nachrichten, wenn man einfach mal in Ruhe das Lokalblättchen lesen will. Aber man muss ja nicht. Aber auch in seröseren Medien sind religionseifernde Menschen aufdringlich überrepräsentiert, da kann man wenigstens ab und zu Leserbriefe schreiben. Schwieriger ist der Umgang mit Menschen, die einem wichtig, aber religiös infiziert und daher oft sehr empfindlich gegen jede Art von Augen-Öffnen sind. Oft wird man vor die Alternative gestellt, zu kuschen oder sich zu verziehen, was sehr schade ist, denn dumm stellen kann ich mich nicht mehr.

Konkrete Eigenerfahrungen mit Religiosität

Ich war nie religiös und hatte nie den Wunsch oder das Bedürfnis nach Glauben, ebenso wenig, wie einschlägige Erfahrungen. Den Wunsch nach Erklärungen zu noch unerklärten Fragen aber hat doch jeder Mensch, und darüber gab es auch immer wieder periphere Berührungen mit z.B. esotherischen oder "alternativen" Deutungsmustern ohne mich allerdings nachhaltig vereinnahmen zu lassen. Doch zunehmende Widersprüche und das Entdecken übereinstimmender Denkblockaden jener "New-Age-Systeme" ließ meine Skepsis wachsen gegenüber allen Weltanschauungsmodellen, die unhinterfragbare Wahrheiten verkünden wo meine Fragen erst anfangen würden. Und ganz klar: Je mehr ich weiß, umso weniger tappe ich in die Glaubensfalle und finde Astrologie, Kartenlegen, Pendeln, Wünschelrutengehen, Heilsteine, Homöopathie, Esotherik und Religion einfach nur noch kurios und naiv.

Glaubensfreie Alternativen

Nein, ich glaube auch nicht an die Behauptung, der Mensch brauche Rituale. So ein Bedürfnis entsteht mit Sicherheit nicht in den Genen, sondern nur in verängstigten Gehirnen, denen die Selbstsicherheit fehlt, ihr Leben selbst zu verantworten. Rituale huldigen immer einem vermeintlichen höheren Sinn. Wer den nicht braucht, braucht auch keine Rituale, sondern höchstens ab und zu lieb gewonnene Gewohnheiten wie ein Gläschen Rotwein, wenn abends die Amsel singt und der Tag geschafft ist.

Freiheit, eigene Wünsche und Gedanken zu leben

Alles ist relativ - sicher habe ich eine ungleich größere Möglichkeit, meine Wünsche und Gedanken zu leben, als eine Ehefrau in Saudi-Arabien. Aber wie jeder Mensch habe auch ich eine Geschichte, die mich geprägt hat und mir innere Grenzen auferlegt, die manchmal schwerer zu überwinden sind, als äußere Einschränkungen. So viel zur Freiheit. Auch lebe ich nicht alleine, da sind Kompromisse unvermeindlich. Was ich anstrebe ist ein Daseinszustand, in dem der Gegensatz zwischen Lust und Pflicht weitestgehend aufgehoben ist durch das Gefühl, dass alles zusammen erst Sinn macht und eine Ganzheit bildet, die glücklich macht.

Zusammenhang zwischen Humanismus und Aufklärung

Beide, Humanismus und Aufklärung, stehen für eine Erweiterung der menschlichen Möglichkeiten und Erkenntnisse zum Wohle aller, wobei der Humanismus einen stärkeren Gefühlsanteil und die Aufklärung einen stärkeren Verstandesanteil abdecken. Beides gehört zusammen, im großen politischen wie im kleinen persönlichen Rahmen. Diese Balance ist enorm wichtig, um nicht einseitig zu werden und glaubhaft zu sein. Vor allem: beide sind zutiefst basisdemokratisch, d.h. sie gehen jeden Einzelnen etwas an und können nicht einfach nach oben deligiert werden. Eigenverantwortung und Vorbild sind gefragt, bei Jedem!

Praktischer Humanismus

Ich mache keinen Hehl aus meiner Einstellung, bringe mich ein in Diskussionen und biete oft mal einen anderen Standpunkt an, ohne zu indoktrinieren, schreibe und illustriere entsprechende Bücher, lehne auch Aufträge ab und begründe dies, wenn die Grundrichtung für mich nicht stimmt (z.B. Bibelgeschichten), trete öffentlich auf, wo es passt und versuche bei allem, immer die Anderen zu respektieren, zu allererst als Menschen zu sehen und nicht als Christen oder Esotheriker o.ä.: Menschliche Nähe statt Sprechblasen.

Selbstbestimmtes Leben und selbstbestimmtes Sterben

Selbstbestimmt leben ist eine Utopie - der so genannte freie Wille beschränkt sich auf ein winziges Segment unseres ansonsten genetisch und pränatalpsychologisch  sehr weit vorprogrammierten Verhaltens, das muss man einfach akzeptieren. Aber da, wo man selbst bestimmen kann, sollte man es so lange wie möglich tun und tun dürfen. Wichtig: wenn´s eng wird, frühzeitig vorsorgen, z.B. durch Patientenverfügungen, Organspendebescheinigungen, Testament etc. Wichtig finde ich, dass im humanistischen Sinn kein Mensch über einen Anderen Entscheidungen treffen sollte/dürfte, die diesen von den allgemeinen Menschenrechten und ihrer Selbstbestimmung loslösen könnten, auch Eltern nicht. Also keine religiöse Abspaltung/Gehirnwäsche, kein Nationalismus, keine körperichen Eingriffe (wie Beschneidungen) und auch keine gezielte Verblödung. Und wenn´s ans Sterben geht, soll niemand über einen anderen bestimmen können, wie das zu sein hat. Allerdings verdienen Sterbewillige, die nicht tödlich krank sind, allen psychologischen Beistand, um eine Motivation aus Gründen psychischer Erkrankungen auszuschließen. Einem Depressiven muss geholfen werden, aber beim Leben, nicht beim Sterben.

Was schadet der Gesellschaft aktuell am meisten

Die Dumpfheit und die Angst. Dumpfheit, weil so viele gar nicht wissen wollen, was man schon weiß und was sich abspielt hinter den Kulissen des Alltagstheaters. Und Angst, weil so viele es nicht tun, weil sie die Verantwortung für das, was dann kommen könnte (auch an Erkenntnissen und möglichen Konsequenzen) gar nicht tragen können. Und das Schlimmste ist,dass diese Tendenzen vor allem in den Medien und in der Politik massiv gefördert, statt zum Besseren endlich durchbrochen zu werden. Rituale angstgeprägter treuer Staatsbürger oder Religionsfolger sind dabei verheerende Versteinerungsmechanismen, wie z.B. der immer noch obligatorische Gedenkgottesdienst nach Katastrophen oder Amokläufen, wo dann dieser Gott gehuldigt und verehrt wird, der gleichzeitig das schreckliche Ereignis nicht verhindert hat. Zum Schreien! Eine zutiefst Menschen verachtende Verdummungspraxis und aktive Gehirnwäsche, die verboten gehört. Ein skandalöser posthumer Machtmissbrauch zu Gunsten der eigenen Ideologieverbreitung gegenüber dem Selbstbestimmungsgebot in Glaubensfragen jedes einzelnen Opfers. 

Stille bzw. unbekannte Humanisten

Der Physiker und Kabarettist Vince Ebert - witzig, kompetent, humanistisch und glaubensfrei.

Und natürlich: ICH. Denn was nützt es, ein fulminantes Buch geschrieben zu haben ("Eine gotteslästerliche Floßfahrt"), wenn's kaum einer kauft, liest, bespricht, diskutiert und weiter empfiehlt? Die gegenseitige Unterstützung in humanistischen Kreisen ist ein wunder Punkt, der noch viel Arbeit und Selbsterkenntnis erfordert.

Humanismus und Spiritualität

Orte sind dann nützlich, wenn an oder in Ihnen etwas Nützliches geschieht. Wichtiger wäre es, Humanismus als ständigen Prozess zu begreifen, nicht als erstarrten Ort oder Standpunkt, dann könnte er überall stattfinden und seine Lebendigkeit zeigen. Also lieber öffentliche Humanismus-Events als öffentliche "Humanismus-Kirchen".

Zukunft und Wünsche

Der Humanismus IST die Zukunft, und zwar die Einzige, alles Andere wird uns weiter ins "Verderben" stürzen. Allerdings zeugt die Geschichte der Menschheit nicht gerade von Vernunft, also woher dann die Hoffnung nehmen? Ich denke, Humanismus kann nur  gewinnen, wenn er auf Dauer immer und überall in allen Zusammenhängen, bei jeder Kriese, jeder Katastrophe, jeder Bedrohung, jedem gesellschaftlichen Konflikt als grundsätzliche Leitlinie ins Gespräch gebracht und als einzige Alternative präsentiert wird, und das von möglichst vielen Menschen (genau so, wie das derzeit die Religiösen machen). Wir müssen unübersehbar und unüberhörbar werden und doch immer sichtbar Teil des Ganzen bleiben, uns nicht hervorheben wollen, Verantwortung, Empathie und Lebenslust zeigen und selber leben, dann ist auch schon der Weg das Ziel, für jeden Einzelnen und den ganzen Rest :-).

Antworten © Helge Nyncke
„Epikurs Garten” - „Who is Hu” - Gesichter gegenwärtiger Humanisten © Evelin Frerk (376)