Heiner Jestrabek
Heiner Jestrabek
... sich mit chinesischen Philosophen beschäftigen ...
- Selbstdefinition
Atheist bin ich sowieso, weil das der natürlichste Zustand überhaupt ist. Ein Theist hätte demnach erstmal Erklärungsbedarf, wenn er sich öffentlich darstellt oder gar missionieren will. Mich selbst bezeichne ich als Freidenker in der Tradition der Epikuräer, Aufklärung und des undogmatischen Sozialismus.
Sehr hübsch finde ich an dieser Umfrage den Bezug zu Epíkouros Ἐπίκουρος (341-270 v.u.Z.) und seinem kêpos Κήπος ("Garten"). Dieses Bild einer Begegnungsstätte mit gegenseitigem Lehren, Lernen und Diskutieren schwebt mir als Idealzustand der menschlichen Erkenntnis vor.
- Entscheidende Erfahrungen
Einfach durch rationales Nachdenken und konsequentes Handeln. Meine Kindheit war vollkommen normal und ich wurde ohne Eifer religiös evangelisch erzogen. Mit ungefähr 14 Jahren begann ich bewusst selbständig zu denken und hinterfragte erstmal alles, was mir begegnete: der Glaube an den „soziale Marktwirtschaft“ genannten Kapitalismus und die Religion fielen meiner Hinterfragung als erstes zum Opfer, denn beide Ideologien konnten den praktischen Beweis ihrer Nützlichkeit nicht überzeugend darbringen. Da ich schon immer einen Hang zur persönlichen Konsequenz hatte, bin ich darauf auch aus der Kirche ausgetreten. In meinem weiteren Leben hat sich diese Erkenntnis durch zahlreiche philosophische Studien verfestigt. Deshalb glaube ich auch, weil es sich bei mir um eine emotionslose theoretische Erkenntnis handelte - also nicht wie bei so manchen „enttäuschten“ Gläubigen um eine Negation - neige ich zu keinem Fanatismus und Bekehrungswahn. Mein Umgang mit religiös eingestellten Freunden und Mitmenschen ist völlig unverkrampft und von wirklicher Toleranz geprägt. - Allerdings lasse ich mich nicht bevormunden oder missionieren und trete für das Recht eines jeden auf positive oder negative Religionsfreiheit ein.
- Elitär
Keinesfalls elitär. Es ist ein fundamentales Menschenrecht eines Jeden selbstbestimmt über seine Weltanschauung und Philosophie zu bestimmen. Epíkouros hat diesen demokratischen Anspruch in seinem kêpos schon so praktiziert, indem die damals geringgeschätzten Frauen und Sklaven ebenfalls aufgenommen wurden.
Welche kooperativen Strukturen nützlich wären, um mehr Menschen mit dem humanistischen Gedankengut zu erreichen?
Flächendeckende demokratische konfessionsfreie Selbsthilfegruppen in Verbindung mit einer professionell arbeitenden überregionalen Koordination in einem pluralistsichen Verband. Was wir in unserem Land brauchen, ist eine mitgliederstarke Interessenvereinigung der Konfessionsfreien, die in der Lage ist, die Bedürfnisse der Menschen nach weltlicher Kultur zu befriedigen, z. B. durch ein flächendeckendes Angebot an weltlichen Feiern zu den Wendepunkten des Lebens und durch eine politische Interessenvertretung. Eine solche Organisation könnten dann auch die Medien und Politiker nicht mehr ignorieren.
- Religiöse Zwänge
Nein, religiösen Zwängen war ich nicht unterworfen.
Anderen Menschen begegne ich mit Verständnis. Hilfestellung kann man aber nur geben, wenn dies auch gewollt wird. Auch hier gilt das Recht auf weltanschauliche Selbstbestimmung, dass auch unsererseits geachtet werden muss.
- Konkrete Eigenerfahrungen mit Religiosität
Nach einer kindlichen christlichen Sozialisation, die keine bleibenden Schäden hinterliess, stellte ich mit 14 Jahren fest, dass ich keine Ammenmärchen mehr benötigte. Also trat ich aus der Kirche aus und seit meinem ersten Kontakt mit Freidenkern bemühe ich mich um Gesellschaft. In der Gemeinschaft macht Unglauben mehr Spaß.
- Glaubensfreie Alternativen
Weltliche Feierkultur im besonderen und überhaupt alle künstlerischen, literarischen, musischen Bedürfnisse haben einen sehr großen Stellenwert. Meine Tätigkeitsfelder sind deshalb die weltliche Kultur, das Schreiben philosophischer und historischer Texte, weltlich-humanistische Traueransprachen und zu anderen Lebensfeiern. Hierfür gibt es auch in meiner ländlichen Umgebung eine immer größere Nachfrage und Zuspruch.
- Freiheit, eigene Wünsche und Gedanken zu leben
Mein Hedonismus ist im Rahmen des Machbaren und gepaart mit sozialem Engagement und Eintreten für eine menschliche Gesellschaft - wie dies schon bei Epíkouros der Fall war.
Es gibt auch noch viele andere als Anregung dienende "Epikuräer" in anderen Kulturen. Wir blicken schon lang über den Eurozentrismus hinaus und deshalb kann ich nur empfehlen, sich z.B mit Yang Zhu, Wang Chong u.a. chinesischen Philosophen zu befassen (Literaturtipp: Heiner Jestrabek und Ji Yali: "Die Wahrheit in den Tatsachen suchen … ")
- Zusammenhang zwischen Humanismus und Aufklärung
Eine Tautologie: ohne Aufklärung ist kein Humanismus und umgekehrt. Religions- und Gesellschaftskritik bilden eine dialektische Einheit. Oder wie es Heinrich Heine schrieb: „Wer sich von seinem Gotte reißt, wird endlich auch abtrünnig werden von seinen irdischen Behörden.“ (Aus: "Erinnerung aus Krähwinkels Schreckenstagen"). Alle diejenigen, die das eine ohne das andere haben wollen, begehen den Denkfehler der Inkonsequenz. Wir sollten uns fragen, warum denn trotz aller wissenschaftlicher Erkenntnisse heute noch immer die irrealen Kulte massive Förderung durch Staat, Medien und Kapital erfahren. Doch nur, weil Verdummung den Herrschenden nützt!
Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen Humanismus und persönlicher Verantwortung?
Ich will ja auch mir selbst gegenüber glaubhaft bleiben. Es ist mir ein persönliches Bedürfnis Worte und Taten im Einklang zu bringen.
- Praktischer Humanismus
Halten Sie es für sinnvoll und möglich, anderen Menschen Ihre Weltanschauung nahe zu bringen? Wenn ja: wie?
Durch unverstelltes und selbstbewußtes Auftreten als Freidenker hoffe ich glaubwürdig zu bleiben und respektiert zu werden. Einem Missionierungsdrang habe ich eh' nicht, denn den persönlichen Glauben der anderen Menschen kann ich ohne Probleme akzeptieren. Problematisch wird's - wie schon gesagt - erst, wenn wir Konfesionsfreien durch Staat und Kirchen missioniert werden. Da müssen wir uns wehren.
- Selbstbestimmtes Leben und selbstbestimmtes Sterben
… sind nur natürliche Konsequenzen. Reflexionen darüber müssen sich mehr oder weniger alle Trauergäste bei meinen Abschiedsreden anhören. Das Leben in Selbstbestimmung ist: lieben, kämpfen, Erkenntnisse vermehren. Zum Märtyrer und Aufopferer eigne ich mich auch nicht. Dazu bin ich viel zu sehr Epikuräer. Nach meiner Frau und Tochter kommt für mich gleich die Philosophie. Manche Leute sagen, mein Haus quillt über von Büchern. Das sind für mich eben Lebensmittel wie Spätzle und Sprudel.
- Was schadet der Gesellschaft aktuell am meisten
... die "selbstverschuldete Unmündigkeit" (Kant) und die Denkfaulheit (z. B. bei rechristianiserten Altlinken und Dogmatikern). All das wird natürlich nach Kräften gefördert. Und dann sollten wir auch nicht vergessen, dass in unserer Gesellschaft die wirtschaftlich Mächtigen das Sagen haben und Glück oder Unglück von uns allen bestimmen können. Sie tun dies nicht aus angeborener Bosheit, sondern aus ökonomischen Zwängen: "Das Kapital hat einen horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waaghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.“ (Thomas J. Dunning, 1799-1873, englischer Gewerkschafter, zit. nach MEW 23, S. 788)
- Stille bzw. unbekannte Humanisten
Alle die "vergessenen" FreidenkerInnen. Ihrer Popularisierung dienen meine biographischen Bücher und Aufsätze: Albert Dulk, August Bebel, Jakob Stern, Josef Schiller, Adolph Hoffmann, Konrad Beißwanger, Rosa Luxemburg, August Thalheimer, Max Sievers, Susanne Leonhard, Leopold Grünwald, Eduard Fuchs u.a., den vielen jiddischen und chinesischen Dichtern und Denkern, den französischen Aufklärern usw.
- Humanismus und Spiritualität
Ob wir's wahr haben wollen oder nicht: Wir sehen uns gern Denkmäler und Friedhöfe an, um uns zu erinnern an unsere Freunde und Verwandten, aber auch an Literaten, Künstler, Politker, Philosophen. Andererseits gibt's an fast allen Orten noch kriegsverherrlichende Denkmäler. Da gibt's noch viel zum Umwidmen und neu Schaffen.
- Zukunft und Wünsche
Eine funktionsfähige einheitliche pluralistische und mitgliederstarke Organisation für Konfessionsfreie in unserem Land. Schritte dorthin sind heute möglich durch Vernetzung und mit Hilfe der neuen Medien. Phantasie ist gefragt und vielleicht haben wir bald einen weltweiten "Epikour'schen Garten".
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