Dr. Karlheinz Deschner ∆'14
«Ich möchte das Werk zu einer der größten Anklagen machen,
die je ein Mensch gegen die Geschichte des Menschen
erhoben hat.» Mit diesen Worten endete das Exposé zur Kriminalgeschichte
des Christentums, das Karlheinz Deschner
dem Rowohlt Verlag im Frühjahr 1970 übersandte. Heute,
43 Jahre später, ist es vollbracht – und der Autor hat nicht zu
viel versprochen: Tatsächlich ist die Kriminalgeschichte des
Christentums eine der größten Anklageschriften, die jemals
verfasst wurden. In 10 Bänden mit nahezu 6000 Seiten und
mehr als 100 000 Quellenbelegen hat Deschner eine Generalabrechnung
mit der «Religion der Nächstenliebe» vorgelegt,
die in der Weltliteratur ihresgleichen sucht.
Völlig zu Recht gilt das Werk als Meilenstein der modernen
Religionskritik, ja: der kritischen Geschichtsschreibung
schlechthin. Das liegt nicht nur an der Fülle der Inhalte, die
Deschner entgegen allen Denktabus zur Sprache bringt, sondern
auch an der Brillanz der Darstellung: Bei Deschner treffen
die besten Elemente von Wissenschaft, Philosophie und
Kunst aufeinander, vereinigen sich kritische Rationalität, humanistisches
Ethos, künstlerische Sensitivität und ästhetische
Gestaltungskraft zu einer einzigartigen Synthese. Da ist kein
Wort zu viel, keines zu wenig, ein fulminanter Spannungsbogen
zieht sich durch das gesamte Werk, vom furiosen Auftakt
des ersten Bandes bis zum Schlusswort des letzten.
Die Kriminalgeschichte des Christentums erscheint uns
heute in ihrem monumentalen Aufbau so stringent und ur-
wüchsig wie eine gotische Kathedrale oder eine Bruckner-
Sinfonie, weshalb es kaum vorstellbar ist, dass sie ursprünglich
nur einen einzigen schmalen Band umfassen sollte.
Tatsächlich stand in dem Vertrag, den Rowohlt 1970
mit Deschner abschloss, dass der Autor bis Ende 1972 ein
höchstens 350-seitiges Manuskript vorlegen sollte (geplanter
Veröffentlichungstermin: Frühjahr 1973). Im Zuge der
Ausarbeitung nahm das Projekt jedoch immer größere Dimensionen
an. Aus dem einen Band wurden bald zwei Bände
(«Von Konstantin dem Großen bis zum Hochmittelalter»
und «Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart»), kurz darauf
drei («Von den Anfängen bis zu Karl dem Großen», «Von
Kaiser Karl bis Martin Luther» und «Von Luther bis heute»),
Ende der 1970er Jahre – noch immer war keine einzige Zeile
der Kriminalgeschichte erschienen! – stellte der Autor eine
6-bändige Ausgabe in Aussicht (ein Band Antike, zwei Bände
Mittelalter, drei Bände Neuzeit).
Es ist nicht zuletzt dem Engagement von Hermann Gieselbusch,
Deschners langjährigem Lektor bei Rowohlt, zu verdanken,
dass der Verlag das Projekt nicht vorzeitig zu den
Akten legte. Man kann sich leicht vorstellen, wie groß der
Druck gewesen sein muss, der auf Gieselbusch lastete, zumal
Deschner zwischen dem Abschluss des Vertrags bei Rowohlt
und dem Erscheinen des ersten Bandes der Kriminalgeschichte
zwölf (!) weitere Bücher (u. a. «Das Kreuz mit der Kirche»
und «Ein Jahrhundert Heilsgeschichte») bei fremden (!) Verlagen
veröffentlichte, um den Lebensunterhalt seiner Familie
zu sichern. Wahrscheinlich glaubte bei Rowohlt Anfang der
1980er Jahre kaum noch jemand an Deschners Opus magnum,
doch Gieselbusch, von Autor und Werk begeistert,
gab nicht auf. Ein- bis zweimal im Jahr besuchte er Deschner
in Haßfurt, um das Projekt mit ihm zu besprechen.
Diese Hartnäckigkeit zahlte sich aus: Im September 1986,
16 Jahre nach Vertragsabschluss, kam der erste Band der
Kriminalgeschichte des Christentums auf den Markt. Und
augenblicklich stand Deschner wieder im Fokus der Öffentlichkeit,
wie schon nach der Publikation seiner literarischen
Streitschrift «Kitsch, Konvention und Kunst» (1957) oder
der ersten großen Christentumskritik «Abermals krähte der
Hahn» (1962). Unzählige Einladungen zu Lesungen, Vorträgen,
Podiumsdiskussionen, Rundfunk- und Fernsehsendungen
folgten. Glücklicherweise hatte er so viel vorgearbeitet,
dass die Bände 2 (1988) und 3 (1990) trotz der zusätzlichen
Belastung rasch aufeinander folgen konnten.
Hätte er diesen Zweijahresrhythmus eingehalten, wäre
Band 10 bereits 2004, zu seinem 80. Geburtstag, herausgekommen.
Doch nun forderten die vielfältigen Verpflichtungen
ihren Tribut, weshalb Band 4 erst 1994, vier Jahre nach
Band 3, erschien. Hermann Gieselbusch und Herbert Steffen,
der Deschners Werk nach dem Tod des Mäzens Alfred
Schwarz unterstützte, waren alarmiert: Bei gleichbleibender
Frequenz würde Band 10 erst 2018 erscheinen – zum 94. Geburtstag
Deschners! Die Zweifel wuchsen, ob er angesichts
seines fortgeschrittenen Alters die Mammutaufgabe einer
Vollendung der Kriminalgeschichte überhaupt noch bewältigen
konnte.
Doch der Autor widerlegte alle Zweifel: In rascher Folge
erschienen die Bände 5 (1997), 6 (1999), 7 (2002) und 8
(2004). Nach seinem 80. Geburtstag musste Deschner jedoch
immer häufiger Pausen einlegen. Und so dauerte es vier
Jahre bis zur Veröffentlichung des neunten Bandes (2008),
weitere fünf Jahre bis zum Erscheinen des zehnten (2013).
Auch wenn seine Leserinnen und Leser es nicht merken werden,
für den Autor war die Arbeit an diesem letzten Band
streckenweise eine Tortur. Umso glücklicher dürfen wir uns
schätzen, dass nun, 40 Jahre nach dem ursprünglichen Veröffentlichungstermin,
die Kriminalgeschichte des Christentums
vollständig vorliegt. Dass die Darstellung nur bis zur Französischen
Revolution reicht, ist nicht dramatisch. Schließt doch
das große Werk über die neuere Politik der Päpste (1982/83;
1991) – gleichsam der 11. Band der Kriminalgeschichte (Wiederveröffentlichung
2013 im Alibri Verlag) – nahtlos an die
Thematik des 10. Bandes an.
Der lange Atem, den Deschner, sein Lektor Gieselbusch,
der Rowohlt Verlag sowie die vielen Unterstützer des Autors
in den letzten Jahrzehnten bewiesen haben, hat sich gelohnt:
Denn im Unterschied zu den Nullbotschaften, die Jahr
für Jahr den Büchermarkt überschwemmen, wird Deschners
Werk Bestand haben – nicht nur, weil die Themen, die dieser
leidenschaftliche Aufklärer behandelte, aktuell bleiben
werden, sondern vor allem, weil Schriftsteller seines Formats
seltene Ausnahmeerscheinungen sind in dem Meer der Mittelmäßigkeit,
das uns umgibt.
Juni 2006 Fotografie©evelinfrerk.
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Die Bücher Karlheinz Deschners
in zeitlicher Reihenfolge
Von Karlheinz Deschner herausgegebene Sammelwerke mit eigenen und
Beiträgen anderer Autoren sind gekennzeichnet durch Kursivschrift.
1956 Die Nacht steht um mein Haus. Roman
1957 Was halten Sie vom Christentum? 18 Antworten auf eine Umfrage
1957 Kitsch, Konvention und Kunst. Eine literarische Streitschrift
1958 Florenz ohne Sonne. Roman
1962 Abermals krähte der Hahn. Eine kritische Kirchengeschichte von den Anfängen bis zu Pius XII.
1964 Talente, Dichter, Dilettanten. Überschätzte und unterschätzte Werke in der deutschen Literatur der Gegenwart
1965 Mit Gott und den Faschisten. Der Vatikan im Bunde mit Mussolini, Franco, Hitler und Paveli ´ c
1966 Jesusbilder in theologischer Sicht
1966 Das Jahrhundert der Barbarei
1968 Wer lehrt an deutschen Universitäten?
1968 Kirche und Faschismus
1969 Das Christentum im Urteil seiner Gegner, Band 1
1970 Warum ich aus der Kirche ausgetreten bin
1970 Kirche und Krieg. Der christliche Weg zum Ewigen Leben
1971 Der manipulierte Glaube. Eine Kritik der christlichen Dogmen
1971 Das Christentum im Urteil seiner Gegner, Band 2
1974 Das Kreuz mit der Kirche. Eine Sexualgeschichte des Christentums
1974 Kirche des Un-Heils. Argumente um Konsequenzen zu ziehen
1977 Warum ich Christ/Atheist/Agnostiker bin
1981 Ein Papst reist zum Tatort. Flugschrift
1982 Ein Jahrhundert Heilsgeschichte. Die Politik der Päpste im Zeitalter der Weltkriege, Band 1
1983 Ein Jahrhundert Heilsgeschichte. Die Politik der Päpste im Zeitalter der Weltkriege, Band 2
1985 Nur Lebendiges schwimmt gegen den Strom. Aphorismen
1986 Die beleidigte Kirche oder Wer stört den öffentlichen Frieden? Gutachten im Bochumer §1 66-Prozeß
1986 Kriminalgeschichte des Christentums, Band 1: Die Frühzeit – Von den Ursprüngen im Alten Testament bis zum Tod des hl. Augustinus (430)
1987 Opus Diaboli. Fünfzehn unversöhnliche Essays über die Arbeit im Weinberg des Herrn
1988 Kriminalgeschichte des Christentums, Band 2: Die Spätantike – Von den katholischen «Kinderkaisern» bis zur Ausrottung der arianischen Wandalen und Ostgoten unter Justinian I.
1989 Dornröschenträume und Stallgeruch. Über Franken, die Landschaft meines Lebens
1990 Woran ich glaube
1990 Kriminalgeschichte des Christentums, Band 3: Die Alte Kirche –Fälschung, Verdummung, Ausbeutung, Vernichtung
1991 Die Politik der Päpste im 20. Jahrhundert
1991 Der Anti-Katechismus. 200 Gründe gegen die Kirchen und für die Welt (mit Horst Herrmann)
1992 Der Moloch. Zur Amerikanisierung der Welt
1994 Die Vertreter Gottes. Eine Geschichte der Päpste im 20. Jahrhundert
1994 Ärgernisse. Aphorismen
1994 Kriminalgeschichte des Christentums, Band 4: Frühmittelalter – Von König Chlodwig I. (um 500) bis zum Tode Karls «des Großen» (814)
1994 Was ich denke
1995 Weltkrieg der Religionen. Der ewige Kreuzzug auf dem Balkan (mit Milan Petrovic´ )
1997 Kriminalgeschichte des Christentums, Band 5: 9. und 10. Jahrhundert – Von Ludwig dem Frommen (814) bis zum Tode Ottos III. (1002)
1997 Oben ohne. Für einen götterlosen Himmel und eine priesterfreie Welt. Zweiundzwanzig Attacken, Repliken und andere starke Stücke
1998 Die Rhön. Heidnisches und Heiliges einer einsamen Landschaft
1998 Für einen Bissen Fleisch. Das schwärzeste aller Verbrechen
1999 Kriminalgeschichte des Christentums, Band 6: 11. und 12. Jahrhundert – Von Kaiser Heinrich II., dem «Heiligen» (1002) bis zum Ende des Dritten Kreuzzugs (1192)
1999 Zwischen Kniefall und Verdammung. Robert Mächler – Ein gläubiger Antichrist
1999 Memento! Kleiner Denkzettel zum «Großen Bußakt» des Papstes im Heiligen Jahr 2000
2002 Kriminalgeschichte des Christentums, Band 7: Das 13. und 14. Jahrhundert – Von Kaiser Heinrich VI. (1190) zu Kaiser Ludwig IV. dem Bayern (†1347)
2003 Mörder machen Geschichte. Aphorismen
2003 Musik des Vergessens. Über Landschaft, Leben und Tod im Hauptwerk Hans Henny Jahnns
2004 Kriminalgeschichte des Christentums, Band 8: Das 15. und 16. Jahrhundert – Vom Exil der Päpste in Avignon bis zum Augsburger Religionsfrieden
2007 Poeten und Schaumschläger. Von Jean Paul bis Enzensberger. 24 Aufsätze zur Literatur und Literaturkritik. Mit einem Vorwort von Ludger Lütkehaus
2008 Kriminalgeschichte des Christentums, Band 9: Mitte des 16. Bis Anfang des 18. Jahrhunderts – Vom Völkermord in der Neuen Welt bis zum Beginn der Aufklärung
2013 Kriminalgeschichte des Christentums, Band 10: 18. Jahrhundert und Ausblick auf die Folgezeit
2013 Anonym wie der Wind oder Illusionen keine. Alte und neue Aphorismen – eine Auswahl letzter Hand.
Berlin, 2012 | 2014 | 2022-02-08 | 2022-09 eFrerk