Reta Caspar
Reta Caspar
... ein gutes Leben ist mir nur dann möglich, wenn es auch anderen gut geht
- Selbstdefinition
Die Gretchenfrage beantworte ich meist mit „Apathische Agnostikerin“ mit dem Motto: "I don't know and I don't care", weil ich die Gottesfrage nicht für entscheidend halte und für das gedeihliche Zusammenleben der Menschen insgesamt eher schädlich.
Als Humanistin fühle mich insofern, als ich mir bewusst bin, dass ich als Mensch ein soziales Wesen bin und dass mir ein gutes Leben nur dann möglich ist, wenn es den anderen auch gut geht. Ich sehe es als persönliche und gesellschaftliche Herausforderung an, die evolutionären Grenzen der Empathie zu erweitern hin zu einem globalen Bewusstsein, das auch das Wohl der anderen Tiere mit einschließt..
- Entscheidende Erfahrungen
Als Kind einer nicht praktizierenden evangelisch-reformierten Familie wurde mein Selbstverständnis im Alter von 15 Jahren durch einen Umzug aus einer eher städtischen in eine ländliche Gemeinde erschüttert. In dieser fremden Umgebung gab es eine Jugendorganisation der reformierten Kirche, wo meine Debattierfreudigkeit und mein Talent zum Gesang einen Platz fanden. Nach heutigem Verständnis war dies eine evangelikale Gruppierung, die von einem charismatischen jungen Mann geleitet wurde. Es folgten zwei Jahre intensiven Bibelstudiums und typischer evangelikaler Aktivitäten, während der ich auch eine Beziehung zum Gruppenleiter einging, der verzweifelt bemüht war, seine Homosexualität zu überwinden. Die zunehmende Fokussierung auf die Mission stieß mich jedoch ab. Als ich meine Zweifel und Kritik aussprach und auch andere Fragen zur Ausrichtung der Gruppierung stellte (namentlich mein Befund, dass die Gruppe weniger durch das gelebte Vorbild eines Jesus als vielmehr durch den Kampf gegen die Versuchungen des Teufels geleitet wurde, was vermutlich auch auf die als sündhaft erlebte Homosexualität des Leiters zurückzuführen war), wollte sich die Gruppe nicht darauf einlassen. Ich verließ sie deshalb nach rund zwei Jahren und erlebte dann, dass das, was ich für enge Freundschaften gehalten hatte, mit meinem Austritt zunichte war. Alle führenden Personen der damaligen Gruppe sind heute noch in evangelikalen Gruppierungen aktiv.
Das Erlebte hat mich sensibilisiert für dogmatisches Denken und hat mich davon abgehalten, mich etwa einer politischen Partei anzuschließen. Als Pragmatikerin war ich aber 15 Jahre lang in verschiedenen politischen Gremien meiner Wohngemeinde aktiv
– auch als Parteilose auf einem Sitz der Grünen Freien Liste im Gemeindeparlament.
- Elitär
In der Schweiz, wo ich lebe, ist Glaubensfreiheit insofern erfüllt, als Glauben zu einer Privatsache geworden ist. Die Menschen sind sich mehr und mehr bewusst, dass Ethik eine methodische Begründung von Werturteilen bedeutet und nicht ein vorgegebenes Wertegerüst. Menschenrechte und Kinderrechte werden in den Schulen thematisiert und das Verständnis für die Verantwortung eines/r jeden für diese Errungenschaften in den politischen Debatten gefördert.
Es erscheint mir weniger nötig, weitere Strukturen zu schaffen, als vielmehr ein Verständnis dieser Gesellschaft und insbesondere ihrer zivilgesellschaftlichen Strukturen als Ausdruck und Ergebnis humanistischen Denkens zu wecken. Die elektronischen sozialen Netzwerke sehe ich dabei als Chance.
- Religiöse Zwänge
Christlicher Zwang besteht darin, dass ich in der Schweiz im Kanton Bern per Gesetz dazu verdonnert bin, auch die Pfarrlöhne der anerkannten Konfessionen mit meinen Steuergeldern mitzufinanzieren. Das ist redlicherweise nicht mehr zu rechtfertigen und wird in den nächsten Jahrzehnten – wohl weniger durch politische Einsicht als durch die allgemeine Säkularisierung – verschwinden müssen.
Weil meine Erziehung nicht christlich war, fühle ich mich in meinem persönlichen Leben frei von christlichen Zwängen.
- Konkrete Eigenerfahrungen mit Religiosität
Während meiner rund zweijährigen Mitgliedschaft in einer evangelikalen Gruppe hatte ich einige Momente ekstatischer Gefühle. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein Spaziergang im Engadin (dort sind schon andere verrückt geworden ;-), als ich in der verschneiten Bergwelt für einen verzweifelten Moment den Schnee als blutrot wahrnahm.
- Glaubensfreie Alternativen
1995 starb meine Mutter und ich erlebte die erste religionsfreie Abschiedsfeier. Seit 2001 biete ich selber weltliche Rituale an. Dabei erfahre ich immer wieder, dass die Menschen es schätzen, wenn an wichtigen Lebensübergängen eine außen stehende Person durch eine Zeremonie führt, welche der Bedeutung des Anlasses Ausdruck gibt und dazu verhilft, diesen Anlass als außerordentlich und doch eingebettet in den Fluss des Lebens zu empfinden. Begrüßungsfeiern für Kinder sowie Hochzeits- und Abschiedszeremonien sind ohne weiteres und vor allem auch ohne krampfhaftes Abweichen von kirchlichen Zeremonien durchführbar, denn die Zeremonien sind älter als die Kirche.
Schwieriger wird es bei den Initiations-Zeremonien. Für Menschen ist in diesem Alter der Zusammenhang mit Gleichaltrigen besonders wichtig. Da ein Angebot neben dem kirchlichen Angebot aufzubauen, erscheint mit nicht wünschenswert. Vielmehr sollten die Übergänge von Primarschule zur Sekundarschule, sowie der Abschluss der obligatorischen Schulpflicht in den Gemeinden zum Anlass genommen werden, alle Kinder – unabhängig ihrer Konfession und Nationalität – als zunehmend erwachsene und aktive Mitglieder der Gemeinschaft zu feiern und auch in die Pflicht zu nehmen. In der Schweiz werden 18-Jährige in ihren Gemeinden zur Jungbürgerfeier eingeladen, da wird ihnen der „Bürgerbrief“ überreicht – allerdings nur junge Menschen mit Schweizer Pass ...
- Freiheit, eigene Wünsche und Gedanken zu leben
Ich habe mich in meinem Leben immer für die Freiheit entschieden und dafür auch wirtschaftliche Nachteile in Kauf genommen: freiberufliche Tätigkeit ohne soziale Sicherheit, Familiengründung ohne Trauschein und damit ohne Anspruch auf Witwenrente etc., geteilte Elternpflichten mit entsprechenden Karriererisiken etc. Insofern habe ich auch meine Pflichten selber ausgewählt und akzeptiert.
Fast immer hatte und habe ich die Freiheit, vor allem dann zu arbeiten wenn ich inspiriert und motiviert war: früh morgens, spät abends, auch an Wochenenden. Dazwischen nehme ich mir die Zeit für Muße: im Garten sitzen, lesen oder Musik machen, nachmittags ins Kino gehen und mich dabei als höchst privilegiert vorzukommen, obwohl ich als Akademikerin mit zwei Hochschulabschlüssen nie ein Schweizer Durchschnittseinkommen erreicht habe.
- Zusammenhang zwischen Humanismus und Aufklärung
Mit der Aufklärung wurde die Gerechtigkeit im Sinne der Gleichberechtigung in die Verantwortung der Gesellschaft und jedes einzelnen Menschen gestellt. Humanismus bedeutet darin für mich im Kern die "Goldene Regel" in ihrer negativen Form: "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu." Die Wahrnehmung dieser "Anderen" muss unter globalisierten Bedingungen geografisch erweitert werden, unter dem Gesichtspunkt der evolutionären Anthropologie aber auch die Gattung transzendieren.
- Praktischer Humanismus
Ich versuche freundlich zu den Menschen und Tieren zu sein, ein offenes Ohr zu haben für deren Nöte. Ich helfe gerne da, wo ich kann und andere nicht selber können, engagiere mich politisch für gleiche Rechte und unterstütze künstlerische und andere humanistische Projekte - ideell, aber auch finanziell.
- Selbstbestimmtes Leben und selbstbestimmtes Sterben
Sind ein Menschenrecht! Bereits meine Eltern waren Mitglied der Sterbehilfeorganisation EXIT/Dignitas. Die Aussicht auf eine Alternative im Falle eines ausweglosen Leidens hat ihnen am Ende ihres Lebens vieles erleichtert. Sie sind beide selbstbestimmt, ohne Sterbehilfe aber von ihrer Familie begleitet, gestorben. Selbst bin ich ebenfalls seit einiger Zeit Mitglied bei EXIT und wünsche, eines Tages selbstbestimmt zu sterben – mit oder ohne Sterbehilfe. Alle paar Tage erneuere ich den Stempel NO CPR auf meiner linken Brust und bekräftige damit, dass ich nicht reanimiert werden will, wenn mein Herz nicht mehr schlägt.
- Was schadet der Gesellschaft aktuell am meisten
Am meisten schadet der Gesellschaft die Denkfaulheit. Denken ist anstrengend, denn es gibt keine stabilen Wahrheiten, sondern es muss immer wieder radikal neu gedacht werden.
Aber Denken bedeutet auch größte Lust, weil ihm keine Grenzen gesetzt sind. Das sollte auch in den Schulen vermittelt werden, anstelle die Kinder durch reine Faktenaneignung vom eigenen Fragen und Erkunden abzubringen.
- Stille bzw. unbekannte Humanisten
All die HeldInnen des Alltags, die ihrer Mitwelt freundlich begegnen.
- Humanismus und Spiritualität
Spiritualität im Sinne einer universellen Zugehörigkeit empfinde ich einerseits in der Abgeschiedenheit in der Natur, andererseits aber auch im Kontakt mit Menschen, auch über das Internet, wo es immer wieder berührende Begegnungen mit bisher unbekannten Menschen gibt.
- Zukunft und Wünsche
Als Mutter zweier erwachsener Söhne schwanke ich manchmal zwischen Sorge und Hoffnung, engagiere mich aber und erlaube mir nicht, den Optimismus zu verlieren, dass die Vernunft gewinnen wird.