Andrea Kaulich
Andrea Kaulich * 1963 Fotografie ©evelinFrerk.
„Mein“ Humanismus
	Jenseits aller wissenschaftlichen Definitionen denke ich, dass jeder seine Überzeugungen in
	einem vielschichtigen Bedingungsgefüge entwickelt - wie wir werden, wer wir sind, hängt
	mit einer Unzahl von Faktoren zusammen (Gene, Familie, Sozialisation, Intelligenz,
	Erfahrungen, Kontakte, ..., ..., ...), die wir heute (noch) nicht annähernd benennen,
	geschweige denn zueinander in Beziehung setzen können. Vor diesem Hintergrund gehe ich
	davon aus, dass jeder sein höchst individuelles Weltbild entwickelt und Ähnlichkeiten bei
	Anderen sucht; zum einen, um sich zugehörig zu fühlen und zum anderen, um Erklärungen
	zu finden - beides meiner Meinung nach zutiefst menschliche Bedürfnisse...
	Wie bin ich also dazu gekommen, mich heute eher als „Humanistin“ denn als „Christin“
	oder sonstwas zu bezeichnen?
	Mäßig katholisch aufgewachsen erinnere ich mich an mein erstes Schlüsselerlebnis im
	Alter von etwa sieben Jahren, als eine sehr bemühte Religionslehrerin versuchte, uns davon
	zu überzeugen, dass ein guter und gerechter Gott einen Vater mit Fug und Recht dazu
	zwingen kann, seinen Sohn zu ermorden um seinen Gehorsam unter Beweis zu stellen -
	auch dass er dann letztlich „gnädig“ auf die Umsetzung verzichtet hat, vermochte mich
	nicht wirklich zu überzeugen. Das sollte nun ein Beispiel für Güte und Allwissenheit sein?
	Ausgestattet mit einem wachen Verstand und einer gehörigen Portion Widerspruchsgeist ist
	es auch danach niemandem gelungen, die Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten
	auszuräumen, sodass ich mit vierzehn endlich zumindest der Institution Kirche den Rücken
	kehren konnte.
	Und ohne behaupten zu wollen, dass ich dabei einen Plan verfolgt habe, denke ich doch,
	dass ich nicht zufällig in der Schulpsychologie gelandet bin - eigentlich ist das eine logische
	Entwicklung, finden sich darin doch zwei Bereiche wieder, die für mich sehr zentral sind:
	die Psychologie, die sich damit beschäftigt, warum Menschen sich so verhalten, wie sie sich
	verhalten (und wie ihr Erleben dabei aussieht) und die Schule, die als Bildungseinrichtung
	einen großen Einfluss darauf hat, welche Informationen in den sich ausbildenden Gehirnen
	welchen Stellenwert bekommen.
	Auf dem Hintergrund meiner persönlichen Kenntnis der menschlichen Psyche und meiner
	Erfahrung in Schulen hat sich bei mir eine gewisse Faszination für die Frage entwickelt, wie
	ein so offensichtlich unlogisches, fehlerhaftes und schädliches Gebilde wie die Religion
	eine solche Macht haben kann, dass selbst Menschen mit einem hohen Bildungsniveau
	lieber die krusesten Gedankengänge entwickeln, um zu erklären, warum Gott zwar
	allmächtig ist, leider aber doch das ganze menschliche Elend nicht einfach abstellt - statt
	den ganzen Quatsch einfach abzutun? Welche „höheren Mächte“ müssen da am Werk sein?
	Zum Glück gibt es ja zahlreiche religionskritische Schriften! Deren Lektüre und meine
	eigenen Gedanken haben dann letztlich zu meinem heutigen Welt-Bild geführt, also meiner
	Vorstellung dessen, „was die (religiöse) Welt im Innersten zusammenhält“:
	Die evolutionäre Ausstattung des Menschen ist darauf ausgerichtet, zu überleben. Weil das
	menschliche Leben aber ständig in Gefahr ist, hat der Mensch zahlreiche Mechanismen
	entwickelt, diese Gefahren möglichst zu minimieren: die Todesangst, den Wunsch nach
	Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die Suche nach Erklärungen, ... . Diese Mechanismen
	wurden im Laufe der Jahrhunderte geschickt genutzt, um machtpolitische Interessen
	durchzusetzen - und sind inzwischen so miteinander verwoben, dass die Vernunft sich
	verdammt anstrengen muss, dagegen anzugehen.
	Als zwanghafte Optimistin habe ich die Hoffnung aber noch nicht aufgegeben und möchte
	meinen Beitrag dazu leisten, der Vernunft eine weitere Stimme zu verleihen, indem ich
	meine „Knackpunkte“, die meiner Meinung nach größten Ungereimtheiten, immer wieder
	zu bedenken gebe:
	1. Das Theodizee-Problem
	Was dazu nicht schon alles geschrieben und gesagt wurde! Dass Gott den Menschen die
	Freiheit gegeben hat, sich zu entscheiden, und dass sie sich darüber entwickeln können, zum
	Beispiel. Also wenn das der Plan A ist, dann wäre es dringend Zeit für einen Plan B! Denn
	mit einem Fingerschnippen der Allmächtigkeit Not und Elend abstellen zu können und es
	aus irgendwelchen pädagogischen Gründen nicht zu tun, ist perfide und hat mit Güte nichts
	zu tun. Es gibt keinen einzigen nachvollziehbaren Grund, so etwas durchzuziehen. Punkt.
	Mal ganz abgesehen davon, dass mir auch nicht klar ist, warum sich so viele Menschen bei
	Gott bedanken, wenn ihnen etwas Gutes widerfahren ist - obwohl er sich doch gar nicht
	einmischt in den Weltenlauf? Und warum man ihn dann nicht genauso beschimpfen darf,
	wenn etwas nicht gut läuft?
	2. Widerspruch zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen
	Selbst Menschen, die in anderen Zusammenhängen durchaus Wert auf Wissenschaftlichkeit
	und Seriosität legen, lassen in religiösen Zusammenhängen jede logische Überlegung außen
	vor, oft sogar mit dem dem Gefühl, dadurch irgendwie „weiter“ zu sein, jenseits von banaler
	Logik.
	Dass die Evolution als nachgewiesen gelten muss, nun aber überhaupt nicht zur religiösen
	Schöpfungsgeschichte welcher Religion auch immer passt - egal!
	Dass es physikalisch unmöglich ist, in welcher Gestalt auch immer nach dem Tod im
	Himmel auf die Verstorbenen zu treffen - egal!
	Dass im Himmel keine 72 Jungfrauen warten können - egal!
	Dass es in allen religiösen Leitbüchern zahlreiche Inhalte gibt, die historisch
	nachgewiesenermaßen falsch sind - egal!
	Jungfräuliche Empfängnis? Dass das biologisch unmöglich ist - egal!
	3. (Sexual-)moral
	In den drei großen monotheistischen Religionen wird gleichermaßen ein Bild von Sexualität
	gezeichnet, das wenig mit Lust und Genuss zu tun hat - allenfalls innerhalb der
	(heterosexuellen) Ehe zugelassen, gilt sie gemeinhin als etwas Bedrohliches: vor der Ehe,
	mit sich alleine, gleichgeschlechtlich, jenseits vom Zeugungswunsch gehört sie unterdrückt
	und bekämpft. Und mal abgesehen von den zahlreichen direkten und indirekten unseligen
	Konsequenzen aus dieser Haltung (Doppelmoral, Missbrauch, Schuldgefühle, Verhältnis
	Mann/Frau, ...) - was müsste das für ein Gott sein, der den Menschen einerseits die Lust
	schenkt und sie zu leben ihnen andererseits verbietet?
	Mein Fazit:
	Dass Religion „funktioniert“, weil sie tiefe Sehnsüchte bedient, ist vor allem auf dem
	Hintergrund der jahrhundertelang verfestigten Strukturen und Machtverhältnisse
	psychologisch nachvollziehbar. Das massive Festhalten vieler Menschen an der Vorstellung,
	da möge doch noch ein wie auch immer geartetes „Mehr“ sein, das uns leitet und beschützt
	und uns einen Sinn oder zumindest eine Richtung gibt, ist menschlich nachvollziehbar.
	Nichtsdestotrotz entbehrt es jeder sachlichen Grundlage und muss meiner Meinung nach in
	der Summe auch als schädlich angesehen werden:
	Dass Menschen noch heute Kriege im Namen ihrer jeweiligen Gottheiten entfesseln,
	erscheint mir als Preis für ein bisschen Seelenfrieden doch sehr hoch! Zumal die tröstlichen
	und verbindenden Gedanken, die die Kirche ja heute durchaus bedient, auch in anderen
	Formen und Gemeinschaften gelebt werden könnten...
	Wenn man sich vorstellt, was man mit dem Geld und den Gedanken und der Zeit, die
	eingesetzt werden, um dieses System am Laufen zu halten, alles machen könnte! Wie
	sinnvoll man dieses ganze Potential einsetzen könnte!
	Und letztlich, um mit John Lennon zu sprechen:
	„Imagine there's no countries ... and no religion too ... and the world will live as one"
Andrea Kaulich arbeitet als Schulpsychologin.
Berlin, 2016-03-19